Dietlein/Hellermann: Klausurenbuch Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, 3. Auflage 2021, 380 Seiten, 34,90 Euro (C.H. Beck)
Fallbücher im jeweiligem Landesrecht sind ein rares Gut in der juristischen Ausbildungsliteratur. Das vorliegende Fallbuch enthält insgesamt 26 Fälle zum Öffentlichen Landesrecht in Nordrhein-Westfalen. Die Fälle stammen aus dem Landesverfassungsrecht, Kommunalrecht, Polizei- und Ordnungsrecht sowie dem öffentlichen Baurecht.
Johannes Dietlein lehrt Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Johannes Hellermann ist Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Bielefeld.
Kritik
Das Fallbuch versteht sich als Ergänzung zum Lehrbuch "Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen". Beide Werke sind miteinander verknüpft, indem sie zu verschiedenen Themenpunkten jeweils aufeinander verweisen. Insgesamt werden fünf Fälle aus dem Landesverfassungsrecht, sieben Fälle aus dem Kommunalrecht, acht Fälle aus dem Polizei- und Ordnungsrecht und sechs Fälle aus dem öffentlichen Baurecht behandelt.
Die einzelnen Fälle sind stets gleich aufgebaut. An den Sachverhalt schließt sich eine Gliederung an, welche die wesentlichen Stichworte zur Falllösung in der gewählten Prüfungsreihenfolge enthält. Sodann geht es in die ausformulierte Lösungsskizze. Die Fälle werden - wenig überraschend - im Gutachtenstil gelöst. Die Lösung selbst enthält an ausgewählten Stellen Klausurtipps und Hinweise zur Vertiefung.
Dieser Aufbau gefällt. Einziges Manko ist meines Erachtens, dass in einigen Fällen der Sachverhalt und die Gliederungsübersicht auf derselben Seite abgedruckt sind (so geschehen z.B. bei Fall 16 auf Seite 213). Hier hätte ich es besser gefunden, wenn die Gliederungsübersicht erst auf der darauffolgenden Rückseite beginnt, sodass man sie bei der eigenen Bearbeitung nicht umständlich abdecken muss.
Ich habe sämtliche Fälle aus dem Besonderen Verwaltungsrecht bearbeitet. Die Lösungen überzeugen in der Regel. Dennoch seien folgende Bemerkungen erlaubt:
- Fall 18
Auf Seite 250 diskutiert die Lösungsskizze auf einer Drittelseite, ob die Behörde im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung eine Befugnis zum Handeln durch Verwaltungsakt hat (sogenannte "Verwaltungsaktsbefugnis"). Eine solche Verwaltungsaktsbefugnis steht einer Behörde nach allgemeiner Meinung ohne Weiteres in einem klassischen Über- und Unterordnungsverhältnis zu. Dazu gehört insbesondere ein Handeln nach dem VwVG NRW. Die Diskussion erscheint deshalb in der hier behandelten Konstellation überflüssig und fehl am Platz. Sie würde in einer Klausur auch nicht honoriert werden, denn Punkte für Offensichtliches werden nicht vergeben.
- Fall 20
Hier habe ich drei Punkte zu bemängeln:
1) Statthafte Klageart
Auf Seite 286 prüft die Lösungsskizze die statthafte Klageart. Einschlägig ist die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Hier fehlt - für die volle Punktzahl in einer Klausur wohl erforderlich - eine kurze Abgrenzung zur Allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO (Problem: Regelungslücke als notwendige Voraussetzung für eine Analogie).
2) Unmittelbarkeit der Gefahr
Die Definition zur unmittelbaren Gefahr im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG auf Seite 290 ist ungenau. Für den Begriff der Unmittelbarkeit kann nicht pauschal auf die besondere zeitliche Nähe des Schadensereignisses verwiesen werden. Vielmehr ist zu beachten, dass § 15 Abs. 1 VersG Maßnahmen betrifft, die zeitlich vor der Durchführung der Versammlung angeordnet werden. Eine unmittelbare Gefahr liegt deshalb vor, wenn eine besonders hohe Wahrscheinlicht des Schadenseintritts und (vom Beginn der Versammlung an gerechnet) eine zeitliche Nähe des Gefahreneintritts gegeben ist.
3) "Polizeifestigkeit"
Auf Seite 292 wird die "Polizeifestigkeit" des VersG in Bezug auf Maßnahmen gegen einzelne Teilnehmer vor Versammlungsbeginn erörtert. Entscheidendes Kriterium für die Sperrwirkung des VersG gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht sei, ob es sich bei der Maßnahme um eine spezifisch versammlungsbezogene Maßnahme handele.
Diese Abgrenzung überzeugt nicht.
Grund für die "Polizeifestigkeit" des VersG ist der allgemeine Grundsatz, dass speziellere Normen den allgemeineren Normen in ihrem Anwendungsbereich vorgehen. Soweit der Anwendungsbereich des VersG eröffnet ist, kann eine Behörde deshalb nicht auf Vorschriften des allgemeinen Polizeirechts zurückgreifen. Denn das VersG ist in seinem Anwendungsbereich nach allgemeiner Meinung abschließend.
Maßnahmen gegenüber einzelnen Teilnehmern vor Beginn einer öffentlichen Versammlung werden durch das VersG nicht geregelt. Sein Anwendungsbereich ist nicht eröffnet. Das ist der Grund, warum die "Polizeifestigkeit" des VersG nicht für derartige Maßnahmen gegenüber einzelnen Teilnehmern greift (Meßmann, JuS 2007, 524, 527; Bünnigmann JuS 2016, 695, 696).
- Schachtelsätze
Das Problem ist bereits aus dem Lehrbuch zum Öffentlichen Recht bekannt. Ab und zu neigen die Autoren leider zu Schachtelsätzen, die den Lesefluss stören und das Verständnis erschweren. Hierzu ein Beispiel aus Fall 23 auf Seite 325:
"In Betracht käme insoweit, da das Grundstück im unbeplanten Innenbereich liegt, ein Verstoß gegen Regelungen des § 34 BauGB, und zwar im Hinblick auf die zulässige Art der baulichen Nutzung; weil die Eigenart der näheren Umgebung einem in der BauNVO definierten Baugebiet, nämlich wegen der ausschließlichen Wohnnutzung dem reinen Wohngebiet entsprechen und mit den dafür einschlägigen Vorgaben des § 3 BauNVO nicht vereinbar sein könnte, erscheint es möglich, dass das Vorhaben insoweit gegen § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. den einschlägigen Regelungen der BauNVO verstößt."
Abschließendes Urteil
Trotz kleinerer Schwächen ist das Fallbuch sowohl für Studenten als auch Rechtsreferendare sehr zu empfehlen. Der Leser kann mithilfe des Fallbuches klassische Konstellationen im Besonderen Verwaltungsrecht wiederholen und vertiefen.
Insbesondere für Rechtsreferendare, welche das erste Staatsexamen in einem anderen Bundesland absolviert haben, ist das Fallbuch eine ordentliche Einstiegshilfe in die Fallbearbeitung des nordrhein-westfälischen Landesrecht.
David van Koppen